Donnerstag, 3. Mai 2018

Der Islam und die Bildung

„Der Islam befindet sich in einer Krise, es findet eine langsame Implosion statt: Immer mehr Muslime zweifeln an ihrem Glauben, viele konvertieren, andere schwören der Religion ganz ab. Und man sieht, dass die Säkularisierung bei Muslimen ebenso oder sogar stärker auftritt als bei Christen.“ Zu diesem Ergebnis kommt Dr. Michael Blume, Gründungsvorsitzender der Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG).

Michael Blume
Allerdings wehrt sich Blume vehe-ment gegen das im Westen immer noch gängige Erklärungsmuster für diesen schockierenden Niedergang, das den Grund für die Überwältigung und Zerstörung der islamischen Gesellschaften und Institutionen im Wesentlichen auf die Rolle westlicher Imperien und Kolonialmächte sieht. Diese Erklärung, so Blume, würde gerade nicht die Frage beantworten, wie es denn überhaupt so weit kommen konnte, „dass die mächtigen, islamischen Reiche nach Jahrhunderten der auch militärischen Expansion plötzlich in die Defensive gerieten und unterworfen werden konnten.“

„Schützt den Islam vor den Fanatikern,
sonst müsst ihr die Welt vor dem Islam schützen.“

Dieses populäre, türkische Sprichwort wird Mevlana Rumi zugeschrieben, dem großen, islamischen Mystiker des 13. Jahrhunderts, auf den unter anderen die „tanzenden Derwische von Konya“ zurückgehen.

Es dient Blume als Leitfaden bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wieso ab dem 18. Jahrhundert der Zerfall und Niedergang der islamischen Staatenwelt einsetzte und bis heute noch nicht beendet ist.

Blume zufolge gibt es ein Schicksalsjahr, an dem sich die Erstarrung und der bis heute reichende Niedergang der islamischen Welt festmachen lässt. Es ist das Jahr 1485.  Das Osmanische Reich steht am Gipfel seiner Macht. Erst wenige Jahrzehnte zuvor, 1453, haben die Osmanen Konstantinopel erobert, das alte Byzanz und die Hauptstadt des oströmischen Reiches.

Bazazid II (1447-1512)
In unmittelbarer Nähe der Hagia Sophia residiert nun Sultan Bayazid II., ein mächtiger und auch gelehrter Herrscher. Seine Truppen sind längst tiefer nach Europa eingedrungen und haben große Teile des Balkans erobert, Aber der Sultan hat auch großmütig jüdische und muslimische Flüchtlinge aus Andalusien aufgenommen und dabei über die intoleranten Spanier gespottet, die ihre besten, gebildeten Bürger in sein blühendes Reich treiben.

Im Jahre 1485 bat nun eine Delegation von Kaufleuten bei der Hohen Pforte in Istanbul um Erlaubnis, eine ganz bestimmte Maschine aus Europa einführen und aufbauen zu dürfen: Eine Druckerpresse mit beweglichen Lettern.

Auch wenn die Überlieferungen leider lückenhaft sind, so spricht doch viel für die Annahme, dass es die Ulama waren, die osmanisch-islamischen Schriftgelehrten, die den Sultan dringend vor der Erlaubnis warnten.

Schließlich galt Arabisch als die heilige Sprache des Koran und ihre Beherrschung war wenigen, ehrwürdigen Männern vorbehalten, die dazu eine jahrelange Ausbildung durchliefen. Wenn nun diese heilige Kunst plötzlich entwertet und den Marktplätzen ausgeliefert würde, dann – so befürchteten die Ulama – würde auch die tragende Säule des osmanischen Reiches gefährdet sein.

Und so verbot Sultan Bayazid II. um 1485 den Buchdruck arabischer Lettern bei Todesstrafe. Sein Sohn und Nachfolger Selim, der auch als erster Osmane den Kalifentitel annehmen würde, bestätigte dieses Verbot um 1515 noch einmal und es blieb bis ins 18. Jahrhundert in Kraft.

Buchdruckerwerkstatt

Und da in arabischen Lettern auch Osmanisch und Persisch geschrieben wurde, blieb die Buch- und Lesekultur in der islamischen Welt tatsächlich auf kleine und häufig nichtmuslimische Eliten beschränkt.

Natürlich förderte der Buchdruck nicht nur die Verbreitung von guten und gelehrten Werke. Stattdessen dominierten schon damals - wie heute im Internet auch – oft üble Pamphlete, Provokationen, Sensationsberichte und Verschwörungsmythen.

Erstausgabe der Lutherbibel (1534)
Den Wendepunkt markierte die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther. Im September 1522 war eine erste Auflage des Neuen Testaments fertig, ab 1534 lag eine deutsche Vollbibel vor, an der Luther zeitlebens weiter Verbesserungen anbrachte.

Luther forderte nun, dass alle Menschen – auch Frauen – Lesen und Schreiben lernen sollten. Und er begründete auch selbst das beispielgebende, evangelische Pfarrhaus, in dem die Eltern den Kindern nicht mehr Land und Luxus zu vererben versuchten, sondern „Bildung“.

Dieser Begriff verweist darauf, dass jeder Mensch nach Gottes Ebenbild geformt und also aufgerufen sei, seine ganzen Potentiale auszubilden. Heute ist die mit diesem Begriff verknüpfte geistesgeschichtliche Revolution kaum noch nachvollziehbar. Das Privileg der religiösen Elite auf die Schrift endete jedenfalls mit dem Buchdruck!

Zwar zerbrach die Kirche entlang von Sprachgrenzen und Europa taumelte – nach der Phase der Konfessionskriege – schließlich in die Aufklärung und damit in die Moderne.

Das Osmanische Reich blieb demgegenüber weitergehend stabil – und erstarrte. Die technologische und militärische Überlegenheit ging schleichend verloren nach dem letzten Versuch, Wien einzunehmen (1683), begann der langsame und quälende Verfall des „kranken Mannes am Bosporus“.

Zwar öffnete im 18. Jahrhundert die erste Buchdruckerei in Istanbul ihre Türen – allerdings durften keine religiösen Werke gedruckt werden, doch da es an Lesern und damit an Nachfrage fehlte, musste die Druckerei bald wieder schließen.

Um 1800 konnte bereits die Hälfte der deutschsprachigen Bevölkerung Lesen und Schreiben. Im Osmanischen Reich aber lag der Anteil der Menschen, die Lesen und Schreiben konnte, weiterhin bei nur zwei Prozent!

Diesen riesigen Bildungsabstand hat die islamische Welt bis heute nicht aufgeholt und nicht verdaut. Eine Tatsache mag dies drastisch veranschaulichen: 2013 wiesen die USA 244.000 Patente aus, Japan sogar 340.000, China 154.000 und Südkorea 123.000. Deutschland war mit 82.000 Patenten dabei, Frankreich mit 43.000 und Großbritannien mit 22.000. Der gesamte arabische Raum mit über 370 Millionen Menschen erreichte 2013 lediglich 1.800 Patentanmeldungen.


Zitate aus: Michael Blume: Eine Religion am Ende? Die Krise des Islam, SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 31. Dezember 2017, Redaktion: Ralf Caspary, Produktion: SWR 2017

Weitere Literatur: Michael Blume: Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug. Patmos 2017   -   Ders.: Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe. Herder 2013   -   Ders.: Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt. Zur Evolution der Religiosität. Hirzel 2012


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