Donnerstag, 28. April 2016

Camus und der Mythos des Sisyphos

Albert Camus
„Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus ist der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie kann man im Angesicht des sicheren Todes ein gutes Leben führen?

Wenn es im Mythos des Sisyphos um Themen wie Absurdität, Tod, Selbstmord, den Wert des Lebens, Angst oder Verzweiflung geht, dann spricht Camus nicht von abstrakten Ideen oder Begriffen. Vielmehr beschreibt er ganz persönlich das Gefühl der Absurdität, das seine eigene Krankheit in ihm auslöst, von dem sicher bevorstehenden Tod durch die Tuberkulose. „Er denkt über Selbstmord nach, um sein Leben, das ihm bereits nicht mehr gehört, wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Er überlegt, was mit einer Geschichte anzufangen sei, deren baldiges Ende bereits angekündigt wurde. Er denkt an all die stillen, schrecklichen Stunden, in denen er mit sich allein und seelischen Leiden ausgesetzt war. Er denkt an die Mutlosigkeit, die in plötzlichen Schweißausbrüchen, Herzrhythmusstörungen und Schlaflosigkeit zum Ausdruck kommt. Kurz: Er denkt konkret an den eigenen, greifbaren Tod.“

So ist der Mythos des Sisyphos ein philosophisches Buch, das sich bewusst von der traditionellen Schulphilosophie abgrenzt – und für diese „Todsünde“ ließen Professoren und Universitäten ihn büßen – darunter auch Sartre als berühmtes Aushängeschild dieser Schulphilosophie -, indem sie verbreiteten, Camus sei kein Philosoph, weil er sich nicht an die Regeln der Disziplin halte.

Dabei war Camus’ Ablehnung der „Professorenphilosophie“ war keine Ablehnung der Philosophie als solcher, sondern der Professoren. „Der Mythos des Sisyphos ist kein Philosophiebuch für Philosophen, sondern für alle, die sich jenseits akademischer, die Disziplin für sich allein beanspruchender Institutionen für Philosophie interessieren. Nach Vorbild der antiken Philosophen, die nicht zu Berufskollegen oder Professoren, sondern zu den einfachen Leuten – Fischhändlern, Schreinern, Webern oder Töpfern – auf der Agora sprachen, schrieb Camus ohne Rücksicht auf Doktoren, Professoren und Universitäten. Er sprach zum Volk.“

„Der Mythos des Sisyphos“ steht in der Tradition existentieller Bücher. „Kein Philosoph für Philosophen zu sein heißt nicht, gar kein Philosoph zu sein – ganz im Gegenteil. Vielmehr sollte man in einer Welt, in der die Philosophie von den Professoren in Beschlag genommen wird, vehement beteuern, keiner zu sein.“ Montaigne tat dies in seinen Essais – nicht etwa, weil er kein Philosoph gewesen wäre, sondern weil er in einer Zeit, in der die Scholastik Hochkonjunktur hatte, nicht mit dieser vorherrschenden Form des Philosophierens in Verbindung gebracht werden wollte. Gleiches galt für Camus, der von sich sagte: „Ich bin kein Philosoph. Ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an ein System zu glauben. Mich interessiert die Frage, wie man sich verhalten sollte. Genauer, wie man sich überhaupt verhalten kann, wenn man weder an Gott noch an die Vernunft glaubt.“ Wenn Camus vielleicht auch nicht aus der Perspektive von rationaler Systematik und Dogmatik kein Philosoph sein mag, dann ist er es umso mehr aus der Perspektive existentieller Fragen, aus Sicht des praxisbezogenen Denkens und der demokratischen Heilslehre.

Camus gehört zu den Empirikern, Sensualisten und Utilitaristen, die eine wirkliche theoretische Erkenntnis der Welt für unmöglich hielten. „Nur die Idealisten glauben an das Gegenteil, weil sie die Vielfalt der Welt unter den Oberbegriff der Idee subsumieren. Die Reduktion der Diversität der lebendigen Wirklichkeit auf abstrakte Begriffe erscheint ihnen als Lösung des Problems. Camus aber wusste, dass man die Welt nicht erkennt, sondern erlebt.“

Die Hochzeit des Lichts gegen dunkle Stubenphilosophie

Als Autor des Mythos des Sisyphos blieb er seiner mediterranen Herkunft – „der Hochzeit des Lichts“ - treu: „Vernunft, Ideen und Begriffe zählen auch hier weniger als Gefühle, Empfindungen und Wahrnehmungen. Den Universitätsphilosophen gilt das als Häresie, denn sie betrachten die Sinne als trügerisch und ziehen ihnen Deduktion und Analyse vor. Statt Leidenschaft wollen sie Vernunft; sie lehnen die Körperempfindungen zugunsten begrifflicher Wahrheiten ab. Über die Welt zu dichten schätzen sie geringer, als einen Vortrag über sie zu halten.“ Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum das Establishment Albert Camus die offizielle Berufsbezeichnung `Philosoph´ verweigerte. „Doch in der Welt zu leben, um eine bessere Welt zu erdenken, ist besser, als die Welt zu denken, ohne in ihr zu leben.“

Der Mythos des Sisyphos beginnt mit einem Hinweis: „In einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd.“ Absurdität ist nun aber keine Eigenschaft der Welt, sondern resultiert aus einem bestimmten Verhältnis zu dieser. Anders als Unendlichkeit, Ewigkeit oder Nichts ist sie keine eigene metaphysische Kategorie. Sie entspringt der Gegenüberstellung zweier miteinander unvereinbarer Wahrheiten – Leben und Tod - und tritt nur in deren Konfrontation zutage. Es gibt das Leben, aber es strebt von Anfang an auf die eigene Vernichtung zu. Wir werden geboren, um zu sterben; kommen in die Welt, um sie wieder zu verlassen. Wir sind, um nicht mehr zu sein.

Das Absurde  ist keine Eigenschaft der Welt,
sondern resultiert aus einem bestimmten Verhältnis zu dieser

Was also ist das Leben wert? Müssen wir es leben? Und wenn ja, warum? Ist der Suizid nicht die richtige Antwort auf den Nihilismus? Verleiht der freiwillige Tod dem Leben, das der Tod sich ohnehin nach Belieben einverleiben würde, einen Sinn? Für Camus waren das die entscheidenden Fragen.

Niemand sterbe für eine Idee, aber viele beendeten ihr Leben, weil sie keine Gründe fänden, es fortzuführen. Wenn man die Welt für absurd hält, warum sollte man sie dann nicht verlassen? Und wenn man sie nicht verlässt, darf man sie dann als absurd bezeichnen?

Doch Camus entlarvt den Selbstmord als ebenso absurd wie die Absurdität, die aufzulösen er vorgibt. Mit der gegen sich selbst gerichteten Tat glaubt man, die Absurdität des Lebens aufzuheben, während man sie paradoxerweise erst bekräftigt und ihre Macht noch vergrößert. Das Leben ist absurd, genauso absurd aber ist, es zu beenden.

Was also bleibt? Leben. Camus zufolge bleibt uns nur, dieses absurde Leben zu wollen und die Absurdität mit diesem Willen, diesem erklärten Ja zum Leben zu überwinden. Die Lösung scheint einfach: Sie liege in „der reinsten Freude, nämlich zu fühlen, und zwar auf dieser Erde zu fühlen.“

Im weiteren Verlauf des Werkes untersucht Camus nun die möglichen Lebensformen: „Man könne als verführerischer Don Juan leben, als Schauspieler zu absurdem Ruhm gelangen, auf Reisen sinnlose Erfahrungen in aller Herren Länder sammeln oder seinem Reich als Eroberer immer neue Völker einverleiben. Doch jede dieser Lebensformen basiert auf Täuschungen. Wozu ist das Sammeln der Frauen, Erfolge, Reisen oder Länder letztlich gut? Statt die Absurdität zu überwinden, verstärkt man sie damit noch.“

Durch den Mythos des Sisyphos zieht sich ein ständiger Strom sich streitender Denkbewegungen. Camus überlegt für sich selbst, „hin und her, sagt erst das eine, dann das andere, kommt zu keinem eindeutigen Schluss und erzeugt so den Eindruck ungelöster Fragen. Einmal scheint er zu behaupten, der absurde Mensch sage Ja, an anderer Stelle heißt es, die Lösung liege allererst darin, Ja zu sagen.“ Dieser scheinbare Widerspruch führt zu der Schlussfolgerung, wir entkämen der Absurdität nicht, so sehr wir uns auch bemühten.

Camus beendete das im Oktober 1939 begonnene Buch am 21. Februar 1941, arbeitete also zwischen seinem sechsundzwanzigsten und achtundzwanzigsten Lebensjahr daran. Es ist die ontologische Autobiographie eines jungen, tuberkulosekranken Mannes und eine Untersuchung, die keine Gewissheiten, sondern offene Fragen thematisiert.

Die Weisheit des Sisyphos
Die Weisheit des Sisyphos und der Sinn des gesamten Buches offenbart sich erst am Schluss. Das letzte Kapitel ist genauso betitelt wie das Buch. Nachdem Camus den Felsblock immer wieder den Berg der Reflexion emporgehievt hat, nur um festzustellen, dass er stets zurück ins Tal rutscht, liefert er im letzten und berühmten Satz die Auflösung: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Aber worin besteht sein Glück?

Sisyphos ist der absurde Held: Aufgrund seiner Leidenschaften wie aufgrund seiner Qual. „Seine Verachtung der Götter, sein Hass auf den Tod und sein leidenschaftlicher Lebenswille haben ihm unsagbare Marter eingebracht, bei der sein ganzes Sein sich abmüht, ohne etwas zu vollenden.“ Er verkörpert zudem die ewige Wiederkehr des Gleichen: Er rollt den Felsbrocken den Berg hoch, dieser rollt zurück, er rollt ihn wieder hoch, der Fels bewegt sich erneut nach unten – und das bis in alle Ewigkeit. Es stellt sich nun die Frage, was zu tun sei, wenn man erkannt hat, dass sich alles stets wiederholt und die Wahrheit der Welt in der ewigen Wiederkehr des Gleichen besteht.

Auf diese Frage gab Camus die folgende Antwort: Wir müssten den Willen wollen, der uns will. Auch Sisyphos ist am Ende überzeugt, „dass alles gut ist.“

„Man entdeckt das Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben. <Was! Auf so schmalen Wegen...?> Es gibt aber nur eine Welt. Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Irrtum wäre es, wollte man behaupten, daß das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe. Wohl kommt es vor, daß das Gefühl des Absurden dem Glück entspringt. <Ich finde, daß alles gut ist>, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. Es wird in dem grausamen und begrenzten Universum des Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles erschöpft ist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Es vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagen und mit der Vorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß.

Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen.

Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches, Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird.

Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs - ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.

Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (Camus, Der Mythos des Sisyphos)

Zitate aus: Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, München 2013   -   Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, München 2000



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