Donnerstag, 14. Januar 2016

Carlo Strenger und die zivilisierte Verachtung (Teil 3)

Die zivilisierte Verachtung

Carlo Strenger (*1958)
Gegen die Ideologie der politischen Korrektheit, die mittlerweile zu der absurden Situation geführt hat, „dass der vorgeblich tolerante, faire und für kulturelle Unterschiede sensibilisierte Westen selbst zum Opfer jener Intoleranz geworden ist, die mit der Idee der politischen Korrektheit bekämpft werden sollte“, setzt Carlo Strenger das Konzept der zivilisierten Verachtung. 

Strenger definiert zivilisierte Verachtung „als eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder gar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten.“ 

Das Adjektiv „zivilisiert“ verweis in diesem Zusammenhang auf zwei Prinzipien: Zivilisierte Verachtung „muss erstens auf Argumenten beruhen, die zeigen, dass derjenige, der sie vorbringt, sich ernsthaft darum bemüht hat, den aktuellen Wissensstand in relevanten Disziplinen zu reflektieren; dies ist das Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung.“

Zweitens beruht zivilisierte Verachtung auf dem Prinzip der Menschlichkeit, d.h. auf der der „Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren.“ Zivilisierte Verachtung richtet sich daher gegen „Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte … und nicht gegen die Menschen, die sie vertreten. Deren Würde und grundlegenden Rechte müssen stets gewahrt bleiben und dürfen ihnen unter keinen Umständen abgesprochen werden.“

Das Prinzip der Menschlichkeit

Während die Verachtung, wie sie in der Haltung der Inquisition oder der iranischen Ayatollahs sichtbar wird, dazu führt, dass jemand „aufgrund seines Glaubens, seiner Werte oder einer Meinungsäußerung zu Freiheitsentzug, Folter oder gar zum Tode verurteilt werden darf“ bezeichnet der Begriff der zivilisierten Verachtung gerade den Anspruch, „Zivilisationsnormen auch gegenüber jenen aufrechtzuerhalten, deren Glaubens- und Wertsysteme man nicht akzeptiert.“ 

Diese Haltung ist Strenger zufolge „um einiges authentischer als die politische Korrektheit“, denn sie verlangt weder, Respekt zu heucheln, „wo keiner wirklich zu haben ist“, noch fordert sie von niemandem, „ unmoralische Denkformen, unmenschliche Praktiken irrationale Überzeugungen oder unzivilisiertes Verhalten zu akzeptieren, nur weil eine andere Kultur oder Religion sie vorschreibt.“ 

Zivilisierte Verachtung ermöglicht letztlich, dass im Rahmen kulturell verfasster Diskurse es erlaubt ist, einer sorgfältig begründeten Verachtung gegenüber bestimmten Anschauungen deutlich und unverhohlen Ausdruck zu verleihen, „solange weder zu Gewalt noch zur Erniedrigung anderer aufgerufen wird.“ 

Im Rahmen der zivilisierten Verachtung spielt also auch die verantwortliche Meinungsbildung eine herausragende Rolle. Dahinter steht die intellektuelle Selbstdisziplin, „die dazu verpflichtet, Informationen zu sammeln und diese sorgfältig abzuwägen; und auf dem Willen, diese Disziplin konsequent aufzubringen. 

Das Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung

Zivilisierte Verachtung ist also immer dann angebracht, „wenn Menschen sich diesen Anforderungen entziehen, weil sie es bequemer finden, Tatsachenbehauptungen zu akzeptieren, die zu ihren emotionalen oder weltanschaulichen Präferenzen passen, selbst wenn sich leicht Indizien finden lassen, die diesen Behauptungen widersprechen.“ Eine solche Tendenz zur kognitiven Verzerrung ist, so Strenger, in allen Lagern von rechts bis links zu finden. 

Was Strenger hier auch für den politischen Diskurs einfordert, nennt er den „Ärztetest“: „Stellen Sie sich vor, ein geliebtes Familienmitglied ist schwer krank – was erwarten Sie von dem behandelnden Arzt? Was würden Sie sagen, wenn sie oder er die Entscheidung für eine bestimmte Darmkrebstherapie mit seinem Glauben begründet und einschlägige klinische Studien ignoriert? Würden Sie das akzeptieren?“ 

Wenn die Überzeugung vorherrscht, alle Ansichten – ob nun substanziell begründet, auf tief empfundenen Werten beruhend oder aus dem Bauch heraus formuliert – verdienten denselben Respekt, geht das Niveau von Debatten regelmäßig in den Keller. 

Zivilisierte Verachtung setzt voraus, über gewisse Grundkenntnisse zu verfügen, „um sich eine fundierte, wissenschaftlich abgesicherte Meinung zu bilden“ und „um Informationen zu finden und kritisch zu beurteilen“, ein aufklärerisches Selbstbewusstsein, „das von der Ideologie der politischen Korrektheit zuletzt zunehmend gelähmt wurde.“ 

Gegen eine verantwortliche Meinungsbildung sieht Strenger die immer stärker werdende gesellschaftliche Tendenz, Eliten – auch Wissenseliten – grundsätzlich zu misstrauen. Wenn auch im Ansatz sicherlich richtig, ist ein pauschales Misstrauen unverantwortlich und – gerade wenn es „nicht nicht um wirtschaftliche oder politische, sondern um meritokratische Eliten geht, die ihren Status durch Leistung erworben haben“ – nicht eine Frage intellektueller Ehrlichkeit oder Bescheidenheit, sondern Ausdruck von Ressentiments.

Wir müssen uns eben an den Gedanken gewöhnen, dass nicht alle Menschen in gleichem Maße über die gleichen Begabungen und Talente verfügen. „Wir akzeptieren das im Fußball, im Showbusiness, aber auch in Fächern wie Medizin, Jura oder den Ingenieurwissenschaften, wo Leistung sich tendenziell objektiver bewerten lässt.“ 

Nicht alle Menschen haben die gleichen Begabungen und Talente!

Die Ideologie der politischen Korrektheit aber hat „von ihren sozialistischen Wurzeln“ die Behauptung übernommen, dass es so etwas wie eine natürliche Begabung nicht gibt oder geben darf. Natürlich geht es Strenger hier nicht darum, „nepotistische Eliten und undurchlässige Klassenstrukturen zu verteidigen.“ Vielmehr müsse man einsehen, „dass mit der Ideologie der politischen Korrektheit etwas erreicht werden sollte, was schlechterdings unmöglich ist: Menschen vor Gefühlen wie Neid und dem Schmerz angesichts von Unterlegenheit zu bewahren.“ 

Auf diese Weise aber würden in der Perspektive der politischen Korrektheit zwei vollkommen unterschiedliche Themen miteinander vermischt: „Auf der einen Seite das Ideal der Aufklärung, nach dem alle Menschen von Geburt an gewisse Grundrechte haben: das Recht auf freie Entfaltung, körperliche Unversehrtheit, Meinungsfreiheit, Menschenwürde usw. .“ Auf der anderen Seite – verdeckt als Ruf nach Chancengleichheit – der „Anspruch auf vollkommene Gleichheit und die Forderung nach der Nivellierung aller Hierarchien und Unterschiede.“ 

Hierbei würden aber das Aufklärungsideal der Gleichheit und das Recht, niemals Neid oder Unterlegenheit empfinden zu müssen, miteinander verwechselt werden. „Letzteres ist als Recht aber überhaupt nicht realisierbar: Jeder Mensch, so begabt er oder sie auch sein mag, wird schon rein logisch irgendjemand anderem in irgendeiner Hinsicht unterlegen sein, ob es dabei nun um athletisches, schauspielerisches, schriftstellerisches, mathematisches oder geschäftliches Talent geht. 

Komplexe moderne Gesellschaften funktionieren nicht ohne Spitzenleistungen ...

Die Logik der politischen Korrektheit ist insofern einfach nicht kohärent: Komplexe moderne Gesellschaften funktionieren ohne Spitzenleistungen nicht, daher müssen wir alle in einem gewissen Ausmaß mit der Erfahrung der Unterlegenheit zurechtkommen. Gleichzeitig wird aber permanent der krampfhafte Versuch unternommen, Qualitätsunterschiede und Hierarchien zu vertuschen, um so die Anlässe zum Neid zu minimieren.“ Auch an dieser Stelle gäbe es im Übrigen wieder eine unheilige Allianz zwischen der extremen Rechten und der extremen Linken.

So ist die Fähigkeit, diesen Neid auszuhalten, ein weiteres wichtiges Element einer Kultur der zivilisierten Verachtung. „Jeder von uns muss sie entwickeln, denn unabhängig davon, wie lang man geübt oder studiert oder trainiert hat, wird es in hyperkomplexen Gesellschaften mit ausdifferenzierten Spezialgebieten immer Diskussionen geben, von denen man nichts versteht und bei denen man nicht mitreden kann.“ 

(Fortsetzung folgt)

Zitate aus: Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 2015 (Suhrkamp)

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