Donnerstag, 12. November 2015

Kant und die Metaphysik - Teil 3: Sokratische Bescheidenheit

Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.

Immanuel Kant (1724 - 1804)

Anlass für Kants Schrift ist seine Beschäftigung mit dem nordischen Seher und Propheten Emanuel Swedenborg. Kant hatte viel Wunderliches von Swedenborg gehört. Man staunte und diskutierte über dessen Fähigkeit, vor allem mit Geistern oder den Seelen von Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu können, auf Erden wie im Himmel.

In all seinen Offenbarungen über die Geheimnisse und Wunder in Himmel und Hölle, im Geisterreich und auf Erden hat Swedenborg immer wieder darauf hingewiesen, dass ihm alles von Gott selbst mitgeteilt worden sei. Es handle sich dabei um lebendige Erfahrungen seines `inneren Menschen´, dem all diese staunenswerten Dinge nur vor dem `inneren Auge´ erschienen.

Alle diese Erfahrungen sind für Kant gleichwohl nur `Privaterscheinungen´, die Swedenborg zur Beglaubigung seines Wissens anführte. „Er war sein einziger Zeuge. Er lebte in seiner eigenen Welt und kommunizierte in seiner engelhaften Privatsprache.

Intersubjektivität statt Solipsismus

Gegen diesen Solipsismus, demzufolge nur das eigene Ich existiert, stellt Kant die intersubjektive Welt gemeinsamer Erfahrungsmöglichkeiten aller Menschen entgegen. „Er vertraut auf die Übereinstimmung der Erfahrungsbasis verschiedener Subjekte, die sich auch im öffentlichen Gebrauch einer Sprache manifestiert, deren Weltbezug jeder mitvollziehen kann.“

Im Anschluss an Heraklit drückt Kant diesen Gedanken so aus: „Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne.“

Damit knüpft Kant direkt an Newtons Mathematische Prinzipien der Naturlehre an: „Weil wir den subjektiven Wahrnehmungen solche Gegenstände, Tatsachen und Prozesse zuordnen können, welche sich nach Grundsätzen Newtons betrachten und erklären lassen, ist eine intersubjektive Verständigung über die Welt möglich. Nicht als Geheimnis, sondern als alles, was tatsächlich der Fall ist, interessiert den Naturphilosophen die Welt.“

Kant geht es darum, die Illusionen einer „geheimen“ Philosophie zu überwinden. Auch er stellt die Metaphysik unter den Verdacht der Sinnlosigkeit, „weil sie sich jeder Überprüfbarkeit anhand intersubjektiv erfahrbarer Tatsachen entzieht. Sie bietet weder wahre noch nachweislich falsche Sätze. Ihre Scheinerfahrungen, Scheinbegriffe und Scheinurteile sind nicht zu verifizieren, aber auch nicht zu falsifizieren, weil sie allein den Imaginationen einzelner Subjekte entspringen, die seherisch begabt zu sein scheinen.“

Jenseits der Grenze liegt das
Schattenreich der Metaphysik
Damit will Kant nichts mehr zu tun haben. Am Ende seiner Reise durch das Schattenreich gilt ihm die Metaphysik als erledigt. Sie soll ihn künftig nichts mehr angehen. Es gibt Nützlicheres zu tun, als sich mit diesem Unsinn herumzuplagen.

Alles, was jenseits der Grenze dessen liegt, das sich gemeinsam denken und sagen lässt, ist einfach Unsinn – eben weil es jenseits der Grenze liegt. Kant skizziert das Schattenreich, in dem sich die Phantasten paradiesisch zu Hause fühlen, als ein `unbegrenztes Land´, `wo sie sich nach Belieben anbauen können.´

„Auch die anderen Bilder, mit denen er die metaphysischen und spiritualistischen Träumereien erhellt, spielen auf Unbegrenztes an: Luftschlösser; ein leerer Raum, wohin uns die `Schmetterlingsflügel der Metaphysik´ zu heben scheinen.“

Jahrzehnte später, in der Kritik der reinen Vernunft (1781) wird er „von dem platonischen Trieb ins Grenzenlose reden, vom Flug einer leichten Taube, welche die Sinnenwelt verlässt und sich `auf den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes´ hebt; oder vom weiten und stürmischen Ozean, diesem eigentlichen Sitz des `Scheins´, wo Nebel und schmelzendes Eis festes Land vorspiegeln und `herumschwärmende Seefahrer mit leeren Hoffnungen´ in täuschende Abenteuer gelockt werden.

Kant aber will auf dem Boden bleiben und Land sehen.“ Um träumerische Spekulationen zu vermeiden, müssen bei allen philosophischen Fragen nach der geistigen Natur und der seelischen Immaterialität klare Grenzen gezogen werden.

Nicht-Wissen-Können
„Gegen alle metaphysischen Hirngespinste verpflichtet Kant die Metaphysik auf eine gleichsam nur negative Aufgabe …nämlich auf die Schranken und Grenzsteine eines Wissens, über das wir nicht hinausreichen können. Keine philosophische Untersuchung dürfe über sie `ausschweifen´. `Insofern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft.´“

Kant setzt das Sokratische Nichtwissen an die Stelle des platonischen Erkenntnisanspruches: Die Metaphysik erweitert nicht das wissenschaftliche Wissen. Aber man lernt durch sie, was Sokrates wusste: Ich weiß es nicht. „Ein bescheidenes Misstrauen stellt sich ein, wenn der Gelehrte an die Grenzen des Erkennbaren stößt und gestehen muss: Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht einsehe."

„`Ich weiß also nicht, ob es Geister gebe.´ Diese Unwissenheit führt zu dem Schluss, dass man in Zukunft zwar von den Geistern und von dergleichen Wesen `noch allerhand meinen, niemals aber mehr wissen könne.´“

Kant offenbart sich hier also als überzeugten Agnostiker, der jeden Wissensanspruch in Zweifel zieht, mit dem man die Grenze einer intersubjektiven Welterfahrung zu überschreiten versucht.

Dieses Nicht-wissen-Können ist kein vorläufiges Nicht-wissen, das in dem Satz ausgedrückt werden kann: Wir wissen es zwar noch nicht, aber wir können es wissen und werden es einst auch wissen. Für Kant steht vielmehr unverrückbar fest: Weil es sich bei der Seele und dem Geist nicht um Gegenstände der Natur handelt, die den Sinnen erscheinen und erfahrungswissenschaftlich analysiert werden können, ist ein Wissen darüber grundsätzlich und für immer ausgeschlossen: Wir werden es niemals wissen.

„Der metaphysische Lehrbegriff von geistigen Wesen liefert uns kein Problem, das wissenschaftlich gelöst werden kann. Er konfrontiert uns mit einem Rätsel, das die Grenze jeder möglichen Erfahrungswissenschaft übersteigt. Das Mysterium des Geistes und der Seele ist theoretisch unbegreifbar.“

Kant bleibt also sokratisch bescheiden. „Angesichts der Rätsel des Geistigen gesteht er eine Unwissenheit, die durch keine Theorie aufgehoben werden kann. Denn weder kann der menschliche Verstand begreifen, was jenseits seiner Grenzen liegt; noch kann sinnlich erfahren werden, was in einer anderen Welt möglicherweise existiert, in unserer Welt aber nicht anzutreffen ist außer in Scheinerfahrungen eines Phantasten, der seine Wahrnehmungserlebnisse missversteht."

Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)

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