Donnerstag, 5. November 2015

Kant und die Metaphysik - Teil 2: Ein Herr namens Swedenborg

Im Frühjahr 1766 erscheint bei Johann Jacob Kanter, dem Königsberger Buchhändler und Verleger, eine anonyme Schrift mit dem merkwürdigen Titel „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ – der Autor war niemand geringeres als Immanuel Kant.

Das Werk beginnt mit dem wuchtigen Satz: „Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten.“ Dieser Satz ist zugleich eine Warnung: „Die Grenze zu diesem Reich darf nicht überschritten werden. Der Weltweise, der Deutlichkeit und Klarheit als methodische Richtlinien seiner philosophischen Tätigkeit schätzt, darf kein Phantast sein. Er will sich nicht verblenden lassen wie die Menschen, die nicht das sehen, was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vorgaukelt.“

Emanuel Swedenborg (1688 - 1772) 
Um sich darüber klar zu werden, hat Kant sich der Person des schwedischen Gelehrten Emanuel Swedenborg zugewandt. Der berühmte Geisterseher findet auch in Deutschland begeisterte Anhänger. Er dient Kant als Spiegelbild und Doppelgänger, von dem er sich trennen muss, um aus den Träumen der Metaphysik aufzuwachen.

„Kant will den Swedenborg in sich überwinden, will den eigenen Geister-Unsinn erkennen, um ihn verwerfen zu können.“

Emanuel Swedberg wurde am 29. Januar 1688 in Stockholm geboren. Seine naturwissenschaftliche Neugier führte ihn nach England, wo er Newton hörte, und begann Mathematik, Mechanik und Astronomie zu studieren. 30 Jahre lang, von 1716 bis 1747, arbeitete in Schweden als Bergwerksassessor gearbeitet. Für seine praktischen Leistungen und wissenschaftlichen Forschungen wurde er mit dem Namen `von Swedenborg´ geadelt und als Mitglied in die Königliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen.

Gegen 1740 ist er auf der Höhe seines wissenschaftlichen Ruhms. Er arbeitet sein großes Werk `Regnum Animale´ aus und schreibt eine bemerkenswerte Abhandlung über das Gehirn - doch zugleich gerät er angesichts dieser wissenschaftlichen Arbeit in eine tiefe Krise. Er befürchtet, dass vor allem das Leib-Seele-Problem seine wissenschaftlich geschulten Verstandeskräfte übersteigt. „Es gelingt ihm nicht, seelische Ereignisse zu naturalisieren. Swedenborg ist an eine Grenze der forschenden Naturerkenntnis gestoßen, die ihm als unüberwindbar erscheint. Er sehnt sich nach Zeichen einer göttlichen Bestätigung, ob er auf dem richtigen Erkenntnisweg ist.“

In dieser Krise, in der das naturbezogene Wissen an seine Grenze stößt und auch der religiöse Glaube in den Strudel des wissenschaftlichen Zweifels gerät, werden Swedenborgs Träume immer intensiver und irritierender. Er beginnt traumartige Halluziniationen zu erleben, weil er extrem seine Atmung reduziert und sich damit beinahe in den Zustand eines Erstickenden bringt. „Hypnagogisch spielt sich alles in ihm ab, vor seinem inneren Gesicht. Mit seinen `geistigen Augen´ sieht er in sich Feuer brennen, und seine Gedanken werden immer `lichtroter´. Auch fühlt er sich in Gesellschaft himmlischer Engel, die in ihm anwesend sind.“

In der Nacht vom 6. zum 7. April 1744 erlebt Swedenborg schließlich seine erste große Christusvision: „Er ist zwar nicht ganz wach gewesen, als der Gottessohn ihn zum Geliebten wählt. Aber das hindert ihn nicht, in seinem Leben eine entscheidende Wende zu vollziehen.

Swedenborg wird zum Liebhaber himmlischen Wissens
Er hat bisher nach wissenschaftlicher Erkenntnis auf verschiedenen Gebieten gestrebt, wobei er meist streng empirisch vorging, vertrauend auf Experiment und Beobachtung. Jetzt aber glaubt er einzusehen: Die Grenze, an die er als Wissenschaftler gestoßen war, muss übersprungen werden. Er sucht das ganz Andere, und das göttliche Mysterium geschieht.“

Schließlich offenbart sich ihm Gott selbst. Von ihm erfährt er, wozu er ausersehen ist: „Er soll den Menschen den geistigen Sinn der Heiligen Schrift auslegen. Angeleitet allein durch göttliche Hilfe soll er den Rest seines Lebens diesen Auftrag zu erfüllen streben. Er soll die himmlischen Geheimnisse zu lüften versuchen, die in Gottes veröffentlichtem Wort verborgen sind.“

`Mir wurde in derselben Nacht zu meiner Überzeugung die Geisterwelt, die Hölle und der Himmel geöffnet, wo ich viele Bekannte desselben Standes wiedererkannte: Von dem Tage an entsagte ich aller weltlichen Gelehrsamkeit und arbeitete in geistigen Dingen, wie mir der Herr befahl zu schreiben.´

Swedenborg ist zum Liebhaber himmlischen Wissens geworden, aus der Krise seines naturwissenschaftlichen Denkens rettet er sich durch eine spiritualistische Wende, die ihn zur göttlichen Wahrheit bringt.

Aber Kant erkennt Swedenborg als das, was er ist, als einen `Genius´, der ihn wie im Märchen ins „Schlaraffenland der Metaphysik“ zu verführen droht.

Damit wird klar, dass es Kant eigentlich um das erkenntnistheoretische Problem einer verlässlichen Erfahrungsbasis geht, auf der sich wissenschaftliche Theorien und metaphysische Systeme gründen lassen.

Metaphysik oder verlässliche Erfahrungsbasis,
auf die sich wissenschaftliche Theorien gründen lassen?

Kant hat sich durch die acht Bände der „Arcana Coelestia“, dem visionären Hauptwerk Swedenborgs hindurchgearbeitet. Aber dieses „große Wunderwerk“ ist letztlich nicht mehr als wirre Ansammlung der `wilden Hirngespinste des ärgsten Schwärmers unter allen, als acht Quartbände voll Unsinn´.

Alle Visionen, die der nordische Visionär bei seinem ständigen und ununterbrochenen Verkehr in der Geisterwelt und im Himmel der Engel gesehen haben will und deren Einsicht er allein von Gott erhalten habe, interpretiert Kant als Einbildungen eines Menschen, „der seine eigene, aus mythischen, biblischen und literarischen Quellen intertextuell zusammengelesene Schöpfung als geheime Weltordnung missversteht.“

Insbesondere interessiert sich Kant für das, was Swedenborg mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört haben will, also für die empirische Basis seines Wissens. Diese Basis jedoch ist für Kant zusammengesetzt aus `Scheinerfahrungen´, die Swedenborg als eigenwillige, verkehrte Interpretationen subjektiver Wahrnehmungserlebnisse interpretiert.

Kant stellt nicht in Frage, was Swedenborg erlebt hat. Jeder kennt phantastische Wahrnehmungserlebnisse, die etwa im Halbschlaf oder bei Geistesabwesenheit entstehen.

Aber Kant wendet sich gegen die Verkehrtheit der Erfahrungsbegriffe fest, mit denen Swedenborg zu beschreiben und zu erklären versuchte, was in und mit ihm geschah. „Hier neigte ein Phantast zu einer verrückten Scheinerfahrung, die sich vor allem durch einen Rückgriff auf eine schwärmerische Bibellektüre als Offenbarung missverstand.

Verbindung mit der Geisterwelt ...
eine Art von Selbstbetrug!
Swedenborgs Verbindung mit der Geisterwelt war eine Art von Selbstbetrug über die Wahrnehmungen und Empfindungen, die intensiv erlebt und visionär überinterpretiert wurden.“


Mit seiner kritischen Analyse der Träume eines Geistersehers hat Kant auch die Träume der Metaphysik als möglichen Schein entlarvt. „Alles Reden von Geist und Seele als immateriellen Wesen, alle Spekulationen über die geheimnisvolle Gemeinschaft von Leib und Seele, seine Imagination einer moralischen `Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen´, die metaphysischen Luftgebilde einer transzendenten Welt, gezimmert aus erschlichenen Begriffen – waren auch … nur Blendwerke einer Einbildungskraft, die nur Scheineinsichten mit sich bringen konnte."

Zitate aus: Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biographie, Hamburg 2004 (Rowohlt)

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