Donnerstag, 19. November 2015

Heinrich Triepel und die heikle Unterscheidung zwischen Hegemonie und Imperium

In seinem Buch „Die ohnmächtige Supermacht“ analysiert Michael Mann die zentralen Fragen der us-amerikanischen Außenpolitik mit Hilfe der Kategorien Hegemonie und Imperium. Hegemonie ist für ihn eine regelgebundene Form der Vorherrschaft – im Unterschied zum Imperium, bei dem die dominierende Macht sich an keinerlei Regeln gebunden fühlt: „Die Amerikaner müssen sich entscheiden, ob sie die Hegemonie wollen und sich dann an die Regeln halten. Doch wenn sie das Empire wollen und damit scheitern, werden sie auch die Hegemonie verlieren. Die Welt würde das wenig kümmern.“


"Die Amerikaner müssen sich entscheiden,
ob sie die Hegemonie oder das Empire wollen!" 

Demgegenüber bezweifeln andere Politologen wie Chalmers Johnson, dass zwischen Imperium und Hegemonie ein substantieller Unterschied besteht. Er geht vielmehr davon aus, dass die Verwendung der Begriffe Teil einer rhetorischen Strategie ist, durch die eine reale Machtausübung in ein helleres Licht oder in den Schatten gestellt werden soll. „Hegemonie“ wäre danach nur eine euphemistische Variante für „Imperium“.

Es war wohl der deutsche Rechtshistoriker Heinrich Triepel, der wie kein anderer in seinem großen Werk „Die Hegemonie“ (1938) über das Verhältnis von Imperialität und Hegemonie nachgedacht hat.

Carl Heinrich Triepel (1886 - 1946)
Auch Triepel hält eine kategorische Unterscheidung zwischen Imperium und Hegemonie für zweifelhaft. Hegemonie sei lediglich „eine der Formen, in denen sich imperialistische Politik auszudrücken vermag“. Ihr Charakteristikum bestehe in einer „Selbstbändigung der Macht“.

Triepel beobachtete gleichwohl, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte eine Tendenz zur größeren Respektierung der Selbständigkeit jener Gebiete durchgesetzt habe, die unter der Herrschaft der imperialen Macht stehen, ihr selbst aber nicht angehören. Er bezeichnete diese Tendenz als das „Gesetz der abnehmenden Gewalt.“

Was Triepel damit aussagen wollte, war die Tatsache, Imperialität in einem Prozess der „Selbstbändigung der Macht“ inzwischen überwiegend die Gestalt von Hegemonie angenommen habe. „Man darf ruhig behaupten, daß in der Politik des modernen Imperialismus der Erwerb von Hegemonie mehr und mehr die typische Form der Machterweiterung geworden ist.“

Für Triepel treffen Imperium und Hegemonie dort zusammen, „wo der Imperialismus bewusst auf Inkorporation fremder Länder in das Gefüge eines alten Staates verzichtet. Sie können sich dort, sie müssen sich nicht begegnen.“

Insbesondere dort, wo föderative Elemente den Prozess der Bildung von Imperien prägen, lässt sich eine Tendenz zur Umwandlung imperialer in hegemoniale Politik beobachten. Aber er bezweifelte auch, dass sie sich immer und überall durchsetzen werde – was wohl zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Buches Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhundert eine mehr als angebrachte Vorsicht war.

Bei seiner Suche nach den Anfängen der Hegemonie „als einer durch gesteigerte Selbstbindung gekennzeichneten Form imperialer Herrschaft“ stieß Triepel auf die antiken griechischen Historiker, die sich mit Entstehung und Scheitern des athenischen (See-)Imperiums beschäftigt haben. Schon bei ihnen ist ein ein abgestufter Gebrauch der Begriffe ἀρχή (arché) und δύναμις (dýnamis) einerseits sowie ἡγεμονία (hegemonía) andererseits zu beobachten: Danach bezeichnen „arché“ – und häufig auch „dýnamis“ - in einem starken Sinn Machtbeziehungen, die Triepel mit dem Begriff der „Herrschaft“ wiedergibt. Dagegen ist mit „hegemonía“ eine schwächere Machtbeziehung gemeint, die Triepel mit „Vorherrschaft“ übersetzt.

Der Attisch-Delische Seebund: Ein Imperium Athens
Triepels Beobachtungen werden auch von Michael Doyle bestätigt, der in seiner vergleichenden Untersuchung von Imperien Unterschiede zwischen der athenischen und der spartanischen Bündnispolitik im 5. vorchristlichen Jahrhundert beschrieben und anschließend eine kategoriale Unterscheidung zwischen Imperium und Hegemonie entwickelt hat:

„Während es sich bei dem von Athen dominierten Delisch-Attischen Seebund um ein Imperium gehandelt habe, sei der Peloponnesische Bund mit Sparta als führender Macht eine Hegemonie gewesen. Diese ist für Doyle dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren Dominanzanspruch allein auf die „Außenpolitik“ der Bündnispartner beschränkt und von Eingriffen in deren innere Entwicklung absieht: Weder die politische noch die wirtschaftliche Ordnung, weder Verfassungsfragen noch die Regulierung von Märkten werden von ihr beeinflusst, geschweige denn unter Verweis auf den eigenen Führungsanspruch verändert.“

Eine solche Selbstbeschränkung ist Doyle zufolge in einem Imperium nicht anzutreffen. „Für imperiale Herrschaft sei vielmehr charakteristisch, dass sie keine klaren Grenzziehungen zwischen Innen und Außen kenne und sich demzufolge permanent in die inneren Angelegenheiten der Bündnispartner einmische.“ Genau das habe auch den Unterschied zwischen Athen und Sparta ausgemacht:

„Sparta beschränkte sich darauf, die Außenbeziehungen der Bündner unter Kontrolle zu halten und dafür zu sorgen, dass der Peloponnesische Bund gegenüber den beiden anderen großen Mächten des ägäischen Raumes, den Persern und den Athenern, eine einheitliche Position bezog; Athen dagegen habe ständig in die Angelegenheiten seiner Bündnispartner eingegriffen: Es achtete darauf, dass die demokratische Partei die Oberhand behielt, zog Gerichtsverfahren an sich, bei denen es um die Verhängung der Todesstrafe ging, setzte eine einheitliche Währung im Bündnisgebiet durch und nötigte schließlich die Bündnerstädte zur Abtretung von Land, auf dem athenische Kolonisten angesiedelt wurden.“

Spartanische Hopliten

Offenbar war man in Athen der Auffassung, man könne sich nur dann auf die Bundesgenossen verlassen, wenn man sie unter entsprechender Kontrolle habe. „Und natürlich wollte die athenische Bürgerschaft von der Last des Seebundes auch profitieren. Mit dem Verweis auf langfristige Interessen waren in der Volksversammlung keine sicheren Mehrheiten zu gewinnen; das war nur durch den Aufweis kurzfristiger Vorteile möglich. Für Doyle ist die spartanische Aristokratie zu einer hegemonialen Politik in der Lage gewesen, während die athenische Demokratie einen notorischen Hang zum Imperium hatte.“

So wird man sagen müssen, „dass die Hegemonie die einzige Form war, in der Sparta, in politischen wie sozialen Fragen grundsätzlich konservativ eingestellt, das Bündnis organisieren konnte. Dagegen musste Athen, wo der Ausbau des Bündnisses mit der Entwicklung der radikalen Demokratie im Innern Hand in Hand ging, die Dynamik der eigenen Entwicklung in die Bündnisstrukturen weiterleiten und so im gesamten ägäischen Raum einen Prozess in Gang setzen, der auf eine dramatische Umwälzung der sozioökonomischen Strukturen hinauslief.“

Im Anschluss an die Überlegungen von Triepel spricht Doyle also dann von einem Imperium, „wenn ein Beziehungsgeflecht zwischen einem Zentrum und einer Peripherie besteht, die in Form von staatenübergreifenden Sozialstrukturen verbunden sind. Bei einer Hegemonie dagegen handle es sich um ein Beziehungssystem zwischen Zentren, von denen eines deutlich stärker als die anderen ist.“

Imperium = ein Beziehungsgeflecht zwischen einem Zentrum und einer Peripherie, die in Form von staatenübergreifenden Sozialstrukturen verbunden sind 

Ob also eine politische Ordnung als imperial oder hegemonial zu klassifizieren ist, hängt dann nicht nur vom sozioökonomischen Entwicklungsstand, sondern auch und vor allem von der relativen politischen Stärke der nachgeordneten Bündnispartner und Mächte ab. „Ist der Abstand erheblich und wird er womöglich durch die Dynamik des Zentrums noch vergrößert, so ist eine „Imperialisierung“ der Dominanzstrukturen die zwangsläufige Folge.

Gleichwohl ebenso entscheidend wie das Machtgefälle zwischen den Bündnispartnern ist für die Herausbildung einer Hegemonie aber der Umstand, dass die nachgeordneten Mächte kein Interesse daran haben beziehungsweise keine Anstrengungen unternehmen, die aktuelle Hegemonialmacht zu verdrängen und selbst deren Position einzunehmen. Nur wenn die Hegemonialmacht davon ausgehen kann, wird sie es bei einem bloßen Vorherrschaftsanspruch belassen und nicht versuchen, die hegemonialen in imperiale Verhältnisse zu verwandeln.

Für die Frage, ob die USA nun ein Imperium oder ein Hegemon sind, heißt das zunächst, dass der Unterschied zwischen beidem sehr viel fließender ist, als oft angenommen. „Wird Imperialität allein an der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der kleineren Staaten festgemacht, während der Hegemon an deren innerer Ordnung nicht wesentlich interessiert sei, so sind die USA, seitdem sie unter Präsident Carter zu einer offensiven Menschenrechtspolitik übergegangen sind, ein Imperium, während sie zuvor, als sie auch Militärdiktaturen in der Nato duldeten, ein Hegemon waren. Damit ist freilich die Wertehierarchie zwischen beiden Begriffen auf den Kopf gestellt.“

Daher schlägt Herfried Münkler in seinem Buch „Imperien - Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ vor, beide Begriffe „ganz wertfrei zu verwenden und damit unterschiedliche Kräfteverhältnisse zwischen den Angehörigen einer politischen Ordnung zu bezeichnen: Hegemon ist dann der Erste unter tendenziell Gleichen, wobei wichtig ist, dass sich die Gleichheit nicht auf Rechte und Pflichten beschränkt, sondern auch tatsächliche Fähigkeiten und Leistungen erfasst. Von Imperien soll dagegen gesprochen werden, wenn das Machtgefälle zwischen der Zentralmacht und den anderen Angehörigen der politischen Ordnung so groß geworden ist, dass es auch durch Gleichheitsfiktionen nicht mehr überbrückt werden kann.“
 
Hegemon = der Erste unter tendenziell Gleichen

Die Frage ist bloß, um welche Art von Macht es geht: um ökonomische, kulturelle, politische oder militärische Macht. Und weil dies alles selten in derselben Rechnung aufgeht, wird kaum je Einmütigkeit darüber bestehen, ob eine Ordnung nun eher imperial oder hegemonial zu denken und weiterzuentwickeln sei.


Zitate aus: Herfried Münkler: Imperien: Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005 (rowohlt) - Weitere Literatur: Heinrich Triepel: Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938 (Kohlhammer) - Michael Mann: Die ohnmächtige Supermacht – Warum die USA nicht die Welt regieren können, Frankfurt a.M. 2003 (Campus) - Michael W. Doyle: Empires, 1986 (Cornell University Press), online bei google books



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