Donnerstag, 26. November 2015

Adam Ferguson und die Idee der bürgerlichen Gesellschaft

In dem Maße, in dem sich die ständische Ordnung des Alten Reiches im Laufe des 18. Jahrhunderts verflüchtigte, drängte im 19. Jahrhundert das Bürgertum  - ausdifferenziert in „Bildungsbürgertum“ und „Wirtschaftsbürgertum“ - immer mehr in das Zentrum der Gesellschaft. Das Bürgertum zeigte sich dabei höchst dynamisch, brennend vor Ehrgeiz und beflügelt von Selbstvertrauen. Zwar waren auch zuvor schon vereinzelte Vertreter dieser Schicht in Erscheinung getreten, doch erst im ausgehenden 18. Jahrhundert wuchs ihre Zahl und vor allen ihr Einfluss.

Porträt einer bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert:
Der 
Arzt und Schriftsteller Wolfgang Müller von Königswinter 

In Familie, in Vereinen, an öffentlichen Orten und in Institutionen wurde die bürgerliche Kultur geprägt und weitergegeben. „Bürgerlichkeit“ bedeutete zugleich auch immer den Anspruch auf politische Partizipation, die sich in kommunaler Selbstverwaltung ebenso zeigte wie in der „bürgerlichen“ Revolution von 1848/49.

Gemeinsam verstanden sich Bildungs- und Wirtschaftsbürger als Trägerschichten der als Leistungsgesellschaft konzipierten bürgerlichen Gesellschaft. „Mit gutem Grund: Schließlich waren sie es, die neben dem Prinzip der individuellen Leistung auch andere Vorstellungen dieses neuen, in den Studierstuben aufklärerisch gesinnter Meisterdenker erdachten Gesellschaftsmodells aufgriffen, für sich annahmen und verbreiteten. Ständische Ungleichheit und absolutistische Staatsgewalt waren die Hauptangriffspunkte. Vordenker war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804). Er forderte, ganz im Geiste der Urväter des Gedankens, eine Gemeinschaft freier und formal gleicher Bürger, denen der „Ausgang“ aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gelungen war.“

Es war vor allem die anti-adlige und anti-absolutistische Stoßrichtung, die auf ein bürgerliches Echo stieß, denn sie verkündete den „Abschied von geburtsständischen Privilegien, obrigkeitsstaatlicher Gängelung und klerikalem Deutungsmonopol.“

Das Bürgertum setzte dagegen die Vision einer von Vernunft, Individualität und Humanität bestimmten Gesellschaftsordnung, in der die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaats einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentationsorgane den Einflüssen des mündigen Bürgers unterstand.

Dazu gehörte auch ein neues Verhältnis zur Geschichte, zur eigenen und zur Geschichte der Menschheit insgesamt. „Bislang bindende Traditionen wurden überdacht, gewendet, gebrochen und verworfen. Nicht mehr das `Schicksal´ bestimmte in den Augen des Bürgertums seine Gegenwart und Zukunft; allein persönliche Tatkraft machte den Bürger zum Herrn seiner selbst.“

Zu den Mosaiksteinen der bürgerlichen Kultur gehörte stets „eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit und – damit eng verbunden – Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt, die Pflichterfüllung im beruflichen und privaten Alltag, die Neigung zur durchdachten Lebensführung, zum Tagesrhythmus nach dem Stundenplan, die Betonung von Erziehung und Bildung, eine empathisch-emphatische Beziehung zur Welt der Kunst, Respekt vor der Wissenschaft und nicht zuletzt die Konzeption und weitgehende Realisation eines spezifischen Familienideals.“

Adam Ferguson (1723–1816)
So schreibt der schottische Historiker Adam Ferguson: „Der Mensch ist von Natur aus Glied einer Gemeinschaft. Betrachtet man das Individuum in dieser Eigenschaft, dann scheint es nicht mehr für sich selbst geschaffen zu sein. Es muß auf sein Glück und seine Freiheit verzichten, wo diese dem Wohl der Gesellschaft widersprechen. … Wenn also das öffentliche Wohl Hauptzweck der Individuen ist, so ist doch in gleicher Weise wahr, daß das Glück der einzelnen der große Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist: denn in welchem Sinne kann eine Öffentlichkeit irgendein Gut genießen, wenn ihre Glieder, einzeln betrachtet, unglücklich sind?

Allerdings sind die Interessen der Gesellschaft und die ihrer Glieder leicht zu versöhnen. Wenn das Individuum der Öffentlichkeit jede nur mögliche Rücksichtnahme schuldet, so wird es, indem es diese Rücksichtnahme erweist, auch des größten Glücks teilhaftig, dessen es seiner Natur nach fähig ist. Die größte Wohltat, welche die Öffentlichkeit ihrerseits ihren Mitgliedern erweisen kann, besteht darin, sie mit sich verbunden zu halten.

Derjenige Staat ist der glücklichste, der von seinen Untertanen am meisten geliebt wird, und die glücklichsten Menschen sind die, deren Herzen sich für eine Gemeinschaft engagieren, in der sie jeden Antrieb zu Großmut und Eifer finden und einen Spielraum zur Betätigung jedes ihrer Talente und jeder ihrer tugendhaften Anlagen.“

" ... so ist doch in gleicher Weise wahr, daß das Glück der einzelnen der große Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist." (Adam Ferguson)

Ähnlich argumentiert der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), der in seinem Bestseller „Die bürgerliche Gesellschaft“ (1851) schrieb: „Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die anderen Stände nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an der modernen hängen geblieben sind.“

Sicherlich ist die Vorstellung, dass der eigene Wertehimmel und Gesellschaftsentwurf über die Grenzen der eigenen sozialen Schicht ausstrahlen würde und dass auf Dauer alle, unabhängig von Stand und Geschlecht, an den Wohltaten der „bürgerlichen Gesellschaft“ partizipieren sollten sollte, gleichermaßen „großherzig und großspurig“.

Aber es war ein durch und durch optimistisches Programm – ein neues, weit weniger starres Weltbild als das des Ancien Régime, das diese Ideen überwölbte. Aus diesem Ideal, das bis ins Alltagsleben eindrang, erwuchs ein Ensemble, das den Lebensstil einer ganzen Gesellschaftsschicht prägte, einschließlich der deutenden Werte und Vorstellungen - mit anderen Worten: aus diesem Ideal erwuchs eine spezifische „bürgerliche Kultur, die die Welt eines Hamburger Kaufmanns, eines Berliner Bankiers, eines Oldenburger Rechtsanwalts und eines Heidelberger Professors im Innersten zusammenhielt.“


Zitate aus: Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)   -   Weitere Literatur: Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1986

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen