Donnerstag, 22. Oktober 2015

Peter Bieri und die Selbstständigkeit im Denken

Peter Bieri
Die Würde ist das höchste Gut des Menschen. Das Buch von Peter Bieri, „Eine Art zu leben. Von der Vielfalt menschlicher Würde“, handelt von diesem zentralen Thema unseres Lebens. Mit einem einzigen Begriff sei die menschliche Würde nicht zu fassen. Die Würde hängt gleichermaßen von unserem Umgang mit anderen und mit uns selbst ab. Würde, so stellt Bieri heraus, ist keine abstrakte Eigenschaft, sondern eine bestimmte Art zu leben.

Selbstständigkeit ein wesentliches Element unserer Würde: „Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Wir wollen selbst entscheiden können, was wir tun und lassen. Wir möchten nicht von der macht und dem Willen anderer abhängig sein. Wir möchten nicht auf andere angewiesen sein.“ Aber diesen Wunsch nach Selbstständigkeit gibt es nicht nur nach außen hin – als unabhängiges Handeln gegenüber anderen Menschen, sondern es gibt auch ein Bedürfnis nach innerer Selbstständigkeit, „nach der Möglichkeit, über unser Denken, Fühlen und Wollen selbst zu bestimmen und in diesem Sinne unabhängig zu sein und nicht angewiesen auf andere.“

Aber diese innere Selbstständigkeit darf nicht mit Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit gegenüber anderen Menschen missverstanden werden. Natürlich werden wir immer von anderen Menschen beeinflusst, denn schließlich leben wir nicht in einem Bunker oder auf einer einsamen Insel.

Was bedeutet das?
Woher eigentlich weiß ich das?
Für Bieri besteht der entscheidende Unterschied zwischen innerer Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit, ob wir in der Lage sind, unser inneres Leben zum Thema zu machen, es zu befragen und uns darum zu kümmern. Unselbstständig im Denken sind wir also dann, wenn wir unser inneres Leben einfach nur geschehen oder treiben lassen, ohne es aktiv zu gestalten.

Diese innere Selbstständigkeit zeigt sich insbesondere im Denken: „Eine gedankliche Selbstständigkeit, wie sie zur Lebensform der Würde gehört, zeigt sich in einer besonderen Wachheit gegenüber dem, was man denkt und sagt. `Was genau bedeutet das?´ und `Woher eigentlich weiß ich das?´, sind die beiden Fragen, in denen sich diese Wachheit ausdrückt.“

Zur Selbstständigkeit gehört demnach, dass diese Fragen und das Fragen überhaupt zu einer zweiten Natur werden. Selbstständig sein in diesem Sinne, bedeutet, skeptisch zu sein „gegenüber leeren Worten und glatten Sprüchen.“ Es bedeutet, unnachgiebig und leidenschaftlich zu sein in der Suche nach Klarheit und gedanklicher Übersicht. Es bedeutet, zusammengefasst, eine eigene Meinung haben zu wollen.

Es steht gleichwohl außer Frage, dass vieles von dem was wir denken, meinen und sagen, zunächst durch Nachahmung und Gewohnheit entstanden ist. Gerade deshalb besteht die Selbstständigkeit im Denken darin, misstrauisch zu sein, wenn andere versuchen, einen durch Sprüche und leere Worthülsen zu verführen oder zu übertölpeln: „Er wird sich nichts vormachen lassen – nicht vom Stammtisch, von Politikern, von der Familie, vom Clan. Er wird dem eigenen Verstand trauen. Den eigenen Erfahrungen. Er wird selbst Regie führen über das, was er denkt.“

Das Gegenstück zum unabhängigen Denker ist der Mitläufer, „der servile Diener fremder Gedanken und fremder Sprüche.“ Der Mitläufer lebt von Meinungsgewohnheiten, Parolen und rhetorischen Brocken. Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen Geschwätz und einem Gedanken: „Er sagt, was man am Stammtisch, im Wahlkampf oder in der Talkshow von ihm erwartet. Er ist der ideale Parteigänger.“

Der totalitäre Machtanspruch zielt letztlich auf das selbstständige Denken!
Wenn man uns in der gedanklichen Selbstständigkeit behindert und einschränkt, dann ist das nicht nur ärgerlich, sondern es gefährdet unsere Würde. In besonders eindringlicher Weise hat George Orwell dies in seiner negativen Utopie „1984“ beschrieben:

„Erinnern Sie sich“, fuhr O´Brian fort, „in Ihr Tagebuch geschrieben zu haben: ›Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei und zwei vier ist‹?“
„Ja“, sagte Winston.
O'Brien hob seine linke Hand hoch, den Handrücken Winston zugekehrt, den Daumen versteckt und die vier Finger ausgestreckt.
„Wie viele Finger halte ich empor, Winston?“
„Vier.“
„Und wenn die Partei sagt, es seien nicht vier, sondern fünf — wie viele sind es dann?“
„Vier.“
Das Wort endete mit einem Schmerzensschrei. (…)
„Wie viele Finger, Winston?“
„Vier, vier! Was kann ich denn anderes sagen? Vier!“ (…)
„Wie viele Finger, Winston?“
„Vier! Hören Sie auf, hören Sie auf! Nicht mehr weiter! Vier!“
„Wie viele Finger, Winston?“
„Fünf! Fünf! Fünf!“
„Nein, Winston, das hat keinen Zweck. Sie lügen. Sie glauben noch immer, es seien vier. Wie viele Finger, bitte?“
„Vier! Fünf! Vier! Was Sie wollen. Nur hören Sie auf, hören Sie auf mit der Quälerei!“ (…)
„Was kann ich dagegen machen?“ stieß er unter Schmerzen hervor. „Was kann ich dagegen machen, dass ich sehe, was ich vor Augen habe? Zwei und zwei macht vier.“
„Manchmal, Winston. Manchmal macht es fünf. Manchmal drei.
Manchmal alles zusammen. Sie müssen sich mehr Mühe geben. Es ist nicht leicht, vernünftig zu werden.“

"Wie viele Finger, Winston?"
Von welcher „Vernunft“ spricht O´Brian, der Folterknecht, hier? Und dann folgen Worte, die an Menschenverachtung und Grausamkeit kaum noch zu überbieten sind und die das Wesen totalitärer Herrschaft und absoluter gedanklicher Abhängigkeit verdeutlichen:

„Sie sind ein Fleck, der ausgemerzt werden muss. Habe ich Ihnen nicht soeben gesagt, dass wir anders sind als die Verfolger der Vergangenheit. Wir geben uns nicht zufrieden mit negativem Gehorsam, auch nicht mit der kriecherischsten Unterwerfung.

Wenn Sie sich uns am Schluss beugen, so muss es freiwillig geschehen.

Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn niemals. Wir bekehren ihn, bemächtigen uns seiner geheimsten Gedanken, formen ihn um. Wir brennen alles Böse und allen Irrglauben aus ihm aus; wir ziehen ihn auf unsere Seite, nicht nur dem Anschein nach, sondern tatsächlich, mit Herz und Seele. Wir machen ihn zu einem der Unsrigen, ehe wir ihn töten. (…)

Kein Mensch, den wir hierher bringen, hält je seinen Widerstand uns gegenüber aufrecht. Jeder wird reingewaschen.

Sogar diese drei elenden Verräter, an deren Unschuld Sie einmal glaubten — Jones, Aaronson und Rutherford — haben wir am Schluss eines Besseren belehrt. Als wir mit ihnen fertig waren, waren sie nur noch leere Hüllen von Menschen. In ihnen war nichts anderes mehr übrig geblieben als Reue über das, was sie getan hatten, und Liebe zum Großen Bruder.

Es war rührend anzusehen, wie sehr sie ihn liebten. Sie baten, rasch erschossen zu werden, um sterben zu können, solange ihr Denken noch sauber war.“

Viele Folteropfer, die in Schauprozessen zu falschen Geständnissen gezwungen wurden, die genau entgegen ihrer eigentlichen Überzeugung aussagen mussten, haben – sofern sie es noch konnten – häufig gesagt, dass das Schlimmste an den Folterungen nicht die Schmerzen und Verstümmelungen waren, sondern „der Angriff auf ihre Würde als selbstständig denkende Wesen.“ Und genau das ist es, was O´Brian versucht bei Winston zu erreichen.

So ist die Würde der inneren Selbstständigkeit nicht immer mit dem Gelingen verknüpft. Aber: „Nicht dem mangelt die Würde, dem die Selbstständigkeit misslingt, weil ihm die gedankliche Übersicht fehlt und er sich verstolpert. Würdelos ist nicht der gescheiterte Versuch, sondern der fehlende Versuch.“


Zitate aus: Peter Bieri: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. München 2013 (Hanser), hier: S. 66ff 



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen