Donnerstag, 9. Juli 2015

Rüdiger Safranski und das Individuum in einer globalisierten Welt - Teil 2

Rüdiger Safranski (* 01.01.1045)
In seinem kleinen Buch „Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch“ versucht Rüdiger Safranski, Freiräume für ein Gleichgewicht und für Handlungsfähigkeit zu beschreiben, die es dem Individuum möglich machen, in einer globalisierten Welt gut zu leben. Er geht dabei von der Prämisse aus, dass sich Globalisierung nur gestalten lässt, wenn darüber nicht die andere große Aufgabe versäumt wird: das Individuum, sich selbst zu gestalten.

Denn dem Individualismus, also dem Gedanken, daß die Verschiedenheit der Menschen „nicht nur ein Faktum darstellt, sondern ein bewahrenswertes Gut, einen Reichtum“, drohen durch die Globalisierung vielfältige Gefahren.

Die globale Informationsgemeinschaft hält uns jeden Tag vor Augen, dass die Menge der Reize und Informationen unseren möglichen Handlungskreis dramatisch überschreitet. „Der durch Medienprothesen künstlich erweiterte Sinnenkreis hat sich vollkommen vom Handlungskreis losgelöst. Man kann handelnd nicht mehr angemessen darauf reagieren, also die Erregung in Handlung umsetzen und abführen.“

Aber: Das Nichtwissen-Können kann das  Handeln des Individuums nicht mehr schützen, denn bekanntlich hängt ja alles mit allem zusammen.“

Natürlich könne der Einzelne allein nach außen hin nicht viel bewirken. Was er aber tun könne, ist, auf sich selbst zu wirken und versuchen, sich gegen fatale Wirkungen von außen abzuschirmen, denn: „Über die Lebbarkeit im Hier und Jetzt entscheidet nicht nur die Struktur des Ganzen, sondern auch der Einzelne, der Spielräume entdecken kann, was nicht zwangsläufig bedeutet, daß er sie auch nutzt; und noch weniger muß das die Konsequenz haben, daß er sie geschickt und selbstbewußt ausweitet. Aber erst das würde bedeuten, daß er sich eine eigene Lichtung schlägt im Dschungel des Sozialen.“

" ... sich eine eigene Lichtung schlagen im Dschungel des Sozialen ..."

Die geistige Tradition bietet Safranski zufolge verschiedene Wege an, sich eine eigene Lichtung zu schlagen im Dschungel des Sozialen - wenn man die Lichtung als jenen Raum versteht, den der Einzelne braucht, um ein Individuum zu sein.

Einen dieser Wege zeigt Rousseau auf, „das Drama, das sich aus der Erfahrung der eigenen Freiheit ergeben kann. Aus der Lust an der eigenen Freiheit wird die Angst vor den vielen Freiheiten der Anderen. Rousseau geriet darüber in Panik.“

Genau aus diesem Grund träumte Rousseau „von der Gesellschaft als großer Kommunion, wo alle ein Herz und eine Seele sind und die vielen Freiheiten aufgehen in der einen großen Freiheit, in der alle zusammenstimmen.“

Das Problem ist, dass die eine große Freiheit in dem Sinne nicht existiert, sondern nur die, die jedes Individuum von innen her kennt: Seine Freiheit!

Alle Versuche, diese Sehnsucht nach der Gesellschaft als großer Kommunion in die Wirklichkeit umzusetzen, haben mit der Aufhebung der Freiheit geendet. „Das Einheitsverlangen, das kein Außerhalb und das heißt: keine Verschiedenheit mehr erträgt, muß, wenn es politisch wird, ins Gefängnis des Totalitären führen.“

Rousseau (1712 - 1778)
Es reicht also nicht, das eigene Selbst und die eigene Freiheit zu entdecken, sondern jedes Individuum steht auch vor der Aufgabe, „die Freiheit der Vielen und die Unberechenbarkeit, die sich daraus ergibt, ertragen können. Wer aber Freiheit zusammen mit der Freiheit der anderen will, wird die Differenzen hinnehmen und auf den gesellschaftlichen Einklang der Herzen verzichten müssen.“

Einen weiteren Versuch, sich eine Lichtung im Dschungel zu schlagen, hatte Karl Marx unternommen. Marx meinte in der Geschichte, im gesellschaftlichen Prozeß das ewige Gesetz Befreiung des Menschen entdeckt zu haben..

Seine Lichtung ist daher nicht in der Innerlichkeit der Selbsterfahrung, sondern sie ist jenes Licht am Ende des geschichtlichen Tunnels erkennbar. „Dort erst, so seine Vision, würde die Menschheit erwachen wie aus schweren Träumen. Bis dahin aber muß man mit längeren Fristen rechnen und sich strategisch geschickt mit der geschichtlichen Dynamik verbinden.“

Aber auch hier – wie schon bei Rousseau – hat sich das Licht am Ende des geschichtlichen Tunnels „als Irrlicht“ erwiesen. „Der real existierende Sozialismus war nicht die große Befreiung, sondern ein graues und grausames Völkergefängnis, terrorisiert oder bevormundet von einer ideologischen Elite.

Weil in dem Begriff „Lichtung“ nicht zuletzt der Gewinn von Freiheit und Souveränität enthalten ist, hat der kommunistische Weg von einer solchen Lichtung weggeführt. 

Worin kann also der Sinn bestehen, eine Lichtung zuschlagen? Safranski gibt eine vorsichtig optimistische Antwort: Es bedeutet, „im Gewimmel der Geschichten die eigene Geschichte zu entdecken, energisch festzuhalten und ihren Faden fortzuspinnen im Bewußtsein, daß sich die eigene Geschichte doch im Gewirr der vielen Geschichten verstricken und am Ende verlieren wird.“

Mit dieser Antwort nimmt Safranski zugleich Abschied von „der Illusion, daß es eine Lichtung als Kommandohöhe gibt, von der aus Geschichte insgesamt gesteuert werden könnte.“

„Eine Lichtung schlagen“ kann dann auch bedeuten, Verhaltens- und Denkweisen zu pflegen, die sich von der globalistischen Hysterie nicht vereinnahmen lassen, darunter die Verlangsamung, den Eigensinn, den Ortssinn, das Abschalten, das Unerreichbar-Sein.

Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835)
Was es bedeutet, ein Individuum zu werden, hat Wilhelm von Humboldt kurz vor seinem Tod in einem Brief formuliert: „Wer, wenn er stirbt, sich sagen kann: `Ich habe soviel Welt, als ich konnte, erfaßt und in meine Menschheit verwandelt´, der hat sein Ziel erreicht. Die Welt in die `Menschheit´, die man selbst ist, zu verwandeln, darauf kommt es an.“

Humboldt nach ist eben die grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des Individuums die Fähigkeit, daß jeder eine Idee von der Gestaltung des eigenen Lebenskreises hat. Erst mit Hilfe dieser Idee kann dann die Fülle der Reize und Informationen vorsortiert, ausgeschieden und verarbeitet werden.

„Diese Kraft zur Gestaltung des eigenen Lebens nannte man früher `Bildung´ - und die Griechen nannten sie `Paideia´. Bildung ist Entfaltung des Individuums und damit ein Selbstzweck. Ausbildung demgegenüber ist ein Mittel zur Qualifikation für den Arbeitsprozeß.

Beides – Bildung und Ausbildung – sind notwendig, aber „während die Ausbildung uns in ein externes Netz verknüpft, ist die Bildung die Entfaltung jenes Netzwerkes, das jeder für sich selbst ist.“

Weil die Globalität uns mit immer mehr Wirklichkeit in Berührung bringt, wird es immer schwerer, hier die eigene Souveränität zu bewahren. In diesem Sinne wäre für Safranski derjenige souverän, der „selbst darüber entscheidet, worin er sich verwickeln und was er auf sich beruhen läßt. Diese Souveränität setzt existentielle Urteilskraft voraus. Man muß nämlich ein Gespür für das haben, was einen wirklich angeht; muß Abstufungen der Dringlichkeit unterscheiden und die Reichweite des eigenen Handelns erkennen können.“

Demgegenüber besteht die Globalisierungshysterie gerade darin, daß diese Unterscheidungsfähigkeit zwischen dem existentiell Nahen und Fernen beeinträchtigt oder gar schon zerstört ist. „Das meinte Goethe mit seinem Hinweis, es sei immer ein Unglück, wenn der Mensch veranlaßt werde, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.“

Die Bewahrung des Eigensinns ist
wie ein Leben auf dem Grat ...
(Karl Jaspers)
Solange man unter der Suggestion des Satzes von Adorno „Es gibt kein richtiges Leben im falschen...“ steht, ist es sehr schwer, den Mut zu finden, auf eigene Faust das für einen selbst Richtige, jene Selbsttätigkeit, zu ergreifen. „Wer sich aber seine Lichtung schaffen will im Dschungel des Sozialen und im Überwuchs globaler Kommunikation, wird nicht ohne lebenskluge Begrenzung auskommen können.“

Derjenige, der sein Leben als ein eigenes und individuelles Leben gestalten will, muß den Punkt kennen, wo er aufhört, sich formatieren und informieren zu lassen. „Die Schwierigkeit bei der Bewahrung des Eigensinns vergleicht Karl Jaspers mit dem Leben auf dem Grat, von dem man abstürzen kann, entweder in den bloßen Betrieb oder in ein wirklichkeitsloses Dasein neben dem Betrieb.“

In der individuellen Lebenszeit entscheidet sich für den Einzelnen alles.


Zitate aus: Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Frankfurt a.M. 2004 (Fischer tb)

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