Donnerstag, 18. Dezember 2014

Lenin und der Staat

Lenin (1870 - 1924)
In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ (1951) setzt sich Albert Camus mit den Ideologen auseinander, die nach innerweltlicher Erlösung streben. Dazu gehört neben Karl Marx mit seinem utopischen Messianismus auch Lenin, der mit seinen Gedanken zur Revolution letztlich alle sentimentalen Formen der revolutionären Aktion ohne Gnade auslöschen wollte. Revolution und Moral seien letztlich zwei voneinander unterschiedliche Dinge, und die revolutionäre Gewalt werde sicherlich nicht „im Gehorsam der Zehn Gebote aufgestellt.“

Mit Lenin entsteht Camus zufolge eine völlig neue Form des Kommunismus. So tritt Lenin „ins Kommando ein, sucht nach dem besten Gang des Motors und entscheidet, welche Tugend zu einem Lenker der Geschichte passt und welche nicht.“

Er tastet zwar ein wenig am Anfang, zögert vor dem Problem, ob Russland zuerst das kapitalistische und industrielle Stadium durchmachen muss – das aber hieße daran zu zweifeln, ob die Revolution in Russland stattfinden könnte – und so wirft er den wirtschaftlichen Fatalismus einfach über Borg und macht sich ans Werk, der sozialistischen Lehre eine vollkommen neue wissenschaftliche Grundlage zu geben.

Dabei leugnet Lenin zunächst die Spontaneität der Massen, dass heißt er geht von der Prämisse aus, das die Arbeiter nicht von sich aus eine unabhängige Ideologie ausarbeiten werden: „`Die Theorie´, sagt er, `muss sich die Spontaneität unterwerden.´ Unverschlüsselt heißt das, die Revolution bedürfe der Führer und der ideologischen Führer.“ Die sozialistische Lehre ist also eine Angelegenheit der intellektuellen Lehrer, bzw. von Berufsrevolutionären.

Das Proletariat aber hat von diesem Augenblick an keine Sendung mehr. „Es ist nur ein machtvolles Mittel unter anderen in den Händen revolutionärer Asketen.“

Das Proletariat verkommt zu einem machtvollen Mittel
in den Händen von Berufsrevolutionären.

Diese Gedanken zum Problem der Machtergreifung ziehen schließlich die Frage nach dem Staat nach sich, einem Thema, dem sich Lenin in seiner Schrift „der Staat und die Revolution“ (1917) widmet. Sie gehört zu den sonderbarsten und widerspruchvollsten Werken der sozialistischen Theorieliteratur.

Mit Hilfe von Marx und Engels wendet sich Lenin gegen jeden Reformismus, der sich des bürgerlichen Staates bedienen möchte, um die Ziele des Sozialismus zu erreichen. Der bürgerliche Staat mit seinem Verwaltungs- und Sicherheitsapparat müsse allein schon deshalb verschwinden, weil er in seinem Wesen nicht anderes ist als eine Einrichtung zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere.

Der proletarische Staat sei gerade kein Staat wie jeder andere, sondern ein Staat, „der seinem Wesen nach nicht aufhört zu verfallen: `sobald es keine Klassen mehr gibt, die man unterdrückt halten muss … ist ein Staat nicht mehr nötig … An die Stelle der Regierung der Personen tritt die Verwaltung der Sachen. Der Staat ist nicht abgeschafft, er geht ein´.“

Wenn der bürgerliche Staat schließlich besiegt ist, bildet sich der proletarische Staat zurück. Die Diktatur des Proletariats ist also deshalb notwendig, „1. um zu beseitigen oder zu unterdrücken, was von der bürgerlichen Klasse noch übrig geblieben ist; 2. und die Sozialisierung der Produktionsmittel zu verwirklichen. Sind diese beiden Aufgaben vollendet, geht sie sofort ein.“

Nur zehn Seiten später behauptet Lenin nun, dass die Macht notwendig sei „zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter `und auch, um die große Masse der Bevölkerung, Bauernschaft, Kleinbürgertum, Halbproletariat, bei der Errichtung der sozialistischen Wirtschaft zu leiten´. Die Wende ist hier unbestreitbar; der provisorische Staat von Marx und Engels wird mit einer neuen Mission beauftragt, die ihm ein langes Leben verleihen kann.“

Die Revolution ist letztlich die Angelegenheit von qualifizierten Führern und Lehrern.

Das aber ist der Grundwiderspruch in der sozialistischen Staatstheorie, wie er insbesondere im Stalinismus deutlich wurde, denn: Entweder hat dieses Regime die klassenlose Gesellschaft verwirklicht, dann rechtfertigt sich die Beibehaltung eines ungeheuren Unterdrückungsapparates nach marxistischen Begriffen nicht, oder es hat sie nicht verwirklicht, und dann ist der Beweis erbracht, dass die marxistische Doktrin irrig und insbesondere die Sozialisierung der Produktionsmittel nicht gleichbedeutend ist mit dem Verschwinden der Klassen.“

Bis zur obersten Stufe des Kommunismus, auf der „jeder nach seinen Bedürfnissen“ lebt und handelt, wird es also einen Staat geben. Auch Lenin gibt zu, dass er nicht weiß und vor allem nicht wissen kann, mit welcher Geschwindigkeit die Entwicklung auf diese oberste Stufe erfolgen wird, und `dass es keinem Sozialisten in den Sinn gekommen ist, den Eintritt der höheren Stufe des Kommunismus zu versprechen.´

Auf dem Weg zur höheren Stufe des Kommunismus: "Jeder nach seinen Bedürfnissen"!

Für Camus steht fest, dass „an dieser Stelle die Freiheit endgültig stirbt. Von der Herrschaft der Massen, vom Begriff der proletarischen Revolution geht man zuerst zur Idee einer von Berufsagenten unternommenen und geleiteten Revolution über. Die unbarmherzige Kritik am Staat söhnt sich darauf mit der notwendigen, doch vorübergehenden Diktatur des Proletariats in Gestalt seines Führers aus. Am Schluss verkündet man, das Ende dieses vorläufigen Zustandes sei nicht vorherzusehen, und überdies sei es niemandem eingefallen, ein Ende zu versprechen.“

So also stellt sich Lenin den Zusammenhang von Revolution und Staat vor: Solange es auf der Welt, nicht in einer bestimmten Gesellschaft, einen Unterdrückten oder einen Besitzer gibt, wird der Staat also aufrechterhalten werden. „Ebenso lange wird er gezwungen sein, sich zu vergrößern, um die Ungerechtigkeiten eine nach der anderen zu beseitigen, die Regierungen der Ungerechtigkeit, die hartnäckigen bürgerlichen Nationen, die Völker, die für ihre eigenen Interessen blind sind. Und wenn auf der endlich unterworfenen, von Gegner gesäuberten Welt die letzte Ungerechtigkeit im Blut der Gerechten und Ungerechten ertränkt ist, dann wird der Staat, an die Grenze der Macht angelangt, ein scheußlicher Götze, der die ganze Erde umfasst, sich im schweigenden Reich der Gerechtigkeit brav auflösen.“

"Unser sozialistisches Leben" (Markus Hahne, 2011)

Hier identifiziert sich die sozialistische Doktrin endgültig mit der Prophetie. Zugunsten einer entfernten Gerechtigkeit legitimiert sie die Ungerechtigkeit während der ganzen Zeit der Geschichte; sie wird zu jener Vorspiegelung, die Lenin mehr als alles andere in der Welt verabscheute. Sie lässt das Unrecht, das Verbrechen und die Lüge hinnehmen durch die Verheißung des Wunders. Noch mehr Produktion und noch mehr Macht, ununterbrochene Arbeit, unaufhörliche Schmerzen, dauernder Krieg, und ein Augenblick wird kommen, da sich die allgemeine Knechtschaft im totalen Staat wunderbarerweise ins Gegenteil verkehren wird: in die freie Muße in einer universalen Republik.“

So könne man schließlich auch die pseudorevolutionäre Mystifikation wie folgt formulieren: „Man muss jede Freiheit töten, um das Reich zu erobern, und das Reich wird eines Tages die Freiheit sein.“

Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 296ff  

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