Donnerstag, 27. November 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 5: Totale Herrschaft - Die Geheimpolizei

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Geheimes Staatspolizeihauptamt
(Prinz-Albrecht-Straße 8, Berlin)
Arendt sieht ein wesentliches Merkmal der totalitären Bewegungen nach ihrer Machtergreifung darin, die wesentliche Differenzen zwischen Staat und Bewegung aufrechtzuerhalten, so dass sie das schwierige Problem lösen, „sich des Staatsapparats zu bemächtigen, ohne mit ihm zu verschmelzen“ (868), mit einer Ausnahme – der Geheimpolizei! Sie ist einzige Institution, in der Staatsmacht und Parteiapparat zusammenfallen und gerade deshalb das eigentliche Machtzentrum im totalitären Herrschaftsapparat.

Die wesentliche Funktion der Gemeinpolizei nach der Machtergreifung ist Arndt zufolge die „unmittelbare Verwirklichung der totalitären Fiktion“ (872). Der Terror hört nun auf, ein bloßes Mittel für die Beseitigung des Widerstands in und die Bewachung der Bevölkerung zu sein, weil bereits alle Opposition liquidiert und die Bevölkerung so organisiert ist, dass sie sich ohnehin nicht mehr rühren kann.

„Erst in diesem Stadium beginnt die wirklich totale Herrschaft, deren eigentliches Wesen der Terror ist. Der Inhalt dieses spezifisch totalitären Terrors ist niemals einfach negativ – etwa die Niederschlagung der Feinde des Regime -, sondern dient positiv der Verwirklichung der jeweiligen totalitären Fiktion“ (874) – der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft im Stalinismus oder der Volksgemeinschaft oder der Rassegesellschaft im Nationalsozialismus.

Göring ernennt Himmler (links)
zum Leiter der Gestapo (April 1934)
Dementsprechend ignoriert die totalitäre Polizei auch alle Unterscheidungen zwischen Feind und Freund und versucht auch gar nicht, den geheimen Gedanken der Beherrschten nachzuspüren. Vielmehr gehört es zu dem Wesen totalitärer Bewegungen, „ihre Feinde in Übereinstimmung mit ihrer bereits vor der Machtergreifung voll entwickelten Ideologie zu definieren, und da diese Definitionen nichts mit ... den Betroffenen zu tun haben, braucht die Polizei auch keine besonderen Erkenntnisse, um 'verdächtige Personen' festzustellen. Die ideologisch definierten Gegner werden aus den natürlichen oder historischen Ablaufgesetzen, deren Exekutor der totalitäre Machthaber zu sein vorgibt, 'objektiv' errechnet. Rassisch Minderwertige sind 'objektive Feinde' der Rassegesellschaft, genauso wie die 'sterbenden Klassen' und ihre Vertreter (die subjektiv sich einbilden mögen, sehr gute Kommunisten zu sein) objektive Feinde der klassenlosen Gesellschaft und objektive Helfer der Bourgeoisie sind" (876f).

Es ist im totalen Staat also bereits von vornherein entschieden, wer der zu Verhaftende und Liquidierende ist. Sein wirkliches Denken oder Planen interessiert keinen Menschen, denn sein Verbrechen ist bereits „objektiv, ohne alle Zuhilfenahme `subjektiver Faktoren´ festgestellt" (877).

So ist in jedem konkreten Fall das 'Verbrechen' früher als die Aufspürung des Verbrechers. „Ist aber erst einmal objektiv entschieden, welches Verbrechen in einem bestimmten Moment der Geschichte gerade an der Tagesordnung ist, so müssen auch die 'Verbrecher' gefunden werden" (877f).

Propagandaplakat zum
Tag der Deutschen Polizei (1941)
Für das Funktionieren totalitärer Regime ist die Einführung des Begriffs vom 'objektiven Gegner' wesentlich wichtiger als die ideologisch festgelegte Bestimmung, wer der Gegner jeweils ist:

„Der Begriff des 'objektiven Gegners', dessen Identität je nach Lage der Dinge wechselt - so dass, sobald eine Kategorie liquidiert ist, einer neuen der Krieg erklärt werden kann -, entspricht aufs genaueste dem von totalitären Machthabern immer wieder proklamierten Tatbestand, dass ihr Regime nicht eine Regierung im althergebrachten Sinne sei, sondern eine Bewegung, deren Fortschreiten naturgemäß immer wieder auf Widerstände stößt, die aufs neue zu beseitigen sind, sofern man von einem Rechtsdenken der totalitären Herrschaftsform sprechen kann, ist der 'objektive Gegner' sein zentraler Begriff" (879).

Es daher nicht wirklich erstaunlich, dass sich subjektive Einsicht in die objektive Notwendigkeit einer Verhaftung und eines Geständnisses am ehesten bei ehemaligen Angehörigen der Geheimpolizei beobachten lässt: "In den Worten eines ehemaligen NKDW-Agenten: 'Meine Vorgesetzten kennen mich und meine Arbeit: wenn die Partei und die NKDW von mir jetzt verlangen, diese Dinge einzugestehen, müssen sie ihre Gründe haben. Meine Pflicht als Bürger der Sowjetunion ist es jedenfalls, das Geständnis, das sie von mir verlangen, nicht zu verweigern.'" (Anm. 87, 880).

Die Geheimpolizei ist letztlich dem Führer unterstellt: "Wer der nächste 'objektive Gegner' sein wird entscheidet der Führer, nicht die Polizei, mit deren Hilfe er liquidiert werden soll (...) In den Worten Himmlers: 'Jeder vom Führer eingesetzte Führer wird von uns gedeckt; jeder vom Führer abgesetzte Führer wird  von uns, wenn es sein muss, mit Brachialgewalt entfernt, denn es gilt eben nur der Befehl des Führers" (881).

Im Totalitarismus kommt es zu einer völligen Umkehrung der traditionellen Aufgaben der Polizei: "Die totalitäre Polizei hat nicht die Aufgabe, Verbrechen aufzudecken; was für Verbrechen gerade verübt werden und wer die Verbrecher sind, bestimmt der Führer. Sie hat dafür immer zur Stelle zum sein, wenn bestimmte Kategorien der Bevölkerung verhaftet werden sollen, und sie hat für ihr Verschwinden zu sorgen. Die einzige Auszeichnung, deren sie sich rühmen kann - und dies ist eine sehr hohe Auszeichnung -, ist, dass nur sie weiß, was jeweils geplant ist und welche politische  Linie jeweils beschlossen wurde" (882).

So tritt an die Stelle eines heimlich geplanten, aber faktisch nachweisbaren Vergehens das objektiv errechenbare 'mögliche Verbrechen', "dessen Planung sich nicht mehr in den Köpfen von Staatsfeinden abspielt, sonder logisch aus der Analyse jeweiliger historisch-politischer Vorgänge ableitbar ist (...) Konstruiert man den Verlauf der Weltgeschichte am Schema der Protokolle der Weisen von Zion, so ergibt sich 'objektiv' - das heißt hier logisch aus einer Prämisse deduzierbar -, dass die Juden danach streben müssen, die Herrschaft zu ergreifen, ganz unabhängig von den faktisch feststellbaren Wünschen und Plänen konkret existierender Juden" (884f).

Juden warten auf den Abtransport (22.10.1940) (Bild: Topographie des Terrors)

Mit anderen Worten: Das Delikt hängt ganz und gar von den im geschichtlichen Augenblick enthaltenen Möglichkeiten ab. Diesen Möglichkeiten muss auch dann entsprochen werden, wenn die Wirklichkeit ihnen nicht entspricht, daß heißt, wenn zu dem 'möglichen Verbrechen' keine wirklichen Verbrecher sich entschlossen haben (...) Da die Geschichte in der totalitären Fiktion voraussehbar und berechenbar verläuft, muss jeder ihrer Möglichkeiten auch eine Wirklichkeit entsprechen. Diese 'Wirklichkeit' wird nicht anders fabriziert als andere 'Tatsachen' in dieser rein fiktiven Welt" (886).

Die totalitäre Geheimpolizei kann sich auch deshalb nicht mehr mit 'verdächtigen Personen' abgeben, weil vom Standpunkt totalitärer Herrschaft die gesamte Bevölkerung dazugehört. Außerdem muss vom Standpunkt totaler Herrschaft „allein die Tatsache, dass menschliche Wesen denken können, einen Verdacht erregen, den kein noch so vorbildliches Verhalten je zerstreuen kann. Denn die Fähigkeit zu denken ist unauflöslich mit der Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, verknüpft" (892).

So hat Arendt nach keine Tyrannenherrschaft jemals die menschliche Freiheit so wirksam und gründlich negiert „wie die Willkür, die sich aus dem Begriff des 'objektiven Gegners' ergibt" (897).

Die totale Herrschaft hat die Begriffe von Verbrechen und Auszeichnung, von Schuld und Unschuld schlicht einfach abgeschafft und an ihre Stelle den furchtbaren neuen Begriff der 'Unerwünschten' und 'Lebensuntauglichen' gesetzt: „Nur Verbrecher kann man bestrafen, Unerwünschte und Lebensuntaugliche lässt man von der Erdoberfläche verschwinden, als hätte es sie nie gegeben (...) Die einzige Spur, die sie hinterlassen, ist die Erinnerung derer, die sie kannten, liebend zu deren Welt sie gehörten. daher gehört zu den vornehmsten und schwierigsten Aufgaben der totalitären Polizei, auch diese Spur mit den Toten zugleich auszulöschen" (898).

So müsse die Bevölkerung daran gewöhnt werden, dass der Verhaftete aus der Welt der Lebenden nicht nur so verschwindet, als wäre er gestorben. Die von der Polizei verwalteten Gefängnisse und Lager sind somit nicht einfach Stätten der Ungerechtigkeit und des Verbrechens; sie sind organisiert als  Höhlen des Vergessens, in die jeder jederzeit hineinstolpern kann, um in ihnen zu verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben. „Weder Leichnam noch Grab geben Kunde davon, dass ein Mord geschah oder dass jemand starb (...) Erst wenn ein Mensch aus der Welt der Lebenden so ausgelöscht ist, als ob er nie gelebt hätte, ist er wirklich ermordet" (900f).

Der Entlassungsschein aus dem Zuchthaus
mit der sofortigen Überstellung des Häftlings ins KZ
Natürlich will Arendt damit nicht behaupten, dass die allgemeinen Tatsachen des Polizeiregimes nicht einem großen Teil der Bevölkerung und vor allem den Parteimitgliedern bekannt wären. „Dass es Konzentrationslager gibt, dass Unschuldige verhaftet werden, dass Menschen spurlos verschwinden, weiß ein jeder. Gleichzeitig aber weiß auch jedermann, dass es nichts Gefährlicheres und nichts Verboteneres gibt, als über diese offenen Geheimnisse zu sprechen oder sich gar nach ihnen zu erkundigen" (902).

Das Privileg des Geheimbundes der Polizei, der Elite und Kaderformationen, ist es aber nun, dieses Geheimnis zu kennen und besprechen zu dürfen. Welches die nächste Kategorie der `Unerwünschten´ und `Lebensuntauglichen´ sein wird, und wichtiger noch, dass es immer solche Kategorien geben wird, ist „das esoterische Wissen, über das allein diese Eingeweihten verfügen“ (902).

So dienen das Ziel der Geheimpolizei, die Erziehung `politischer Soldaten´, die ideologische Schulung der Eliteformationen letztlich alle nur dem einen Zweck – „der furchtbaren und grundsätzlich unbegrenzbaren Erforschung der Reiche des Möglichen und der Verwirklichung einer Welt, in der es Realität und Tatsache im Sinne einer dem Menschen vorgegebenen Faktizität nicht mehr gibt“ (904).

Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)

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