Donnerstag, 18. April 2013

Luciano de Crescenzo und das Agorazein

Luciano de Crescenzo
Luciano de Crescenzo (*1928) ist einer der bekanntesten populärphilosophischen Autoren der Gegenwart. Er studierte Ingenieurwissenschaften an der Universität Neapel und arbeitete dann 20 Jahre als leitender Ingenieur beim Computerkonzern IBM. Nach dem Erfolg seines Buches „Also sprach Bellavista“ (1977) gab de Crescenzo seinen Beruf auf und widmete sich ganz dem Schreiben und der Philosophie.

Bekannt wurde er vor allem durch seine amüsant und verständlich geschriebene „Geschichte der griechischen Philosophie“ (Band 1 erschien 1983, Band 2 erschien 1986). Ein immer wiederkehrendes Thema in seinen Büchern ist die griechische Lebensart, bei der sich ein sehr eigenes Verhältnis zur Arbeit erkennen lässt.

Würde man, so de Crescenzo, die griechische Antike mit einer bestimmten Lebensart gleichsetzen, dann müsse man über ein Verb nachdenken, das es in der griechischen Sprache gibt, für das sich aber in keiner anderen Sprache eine Entsprechung finde und das daher wirklich unübersetzbar sei. Dieses Verb heißt agorazein.

Agorazein“ bedeutet: „auf den Markt gehen und hören, was es Neues gibt“ – also reden, kaufen, verkaufen und seine Freunde treffen; es bedeutet aber auch, ohne genaue Vorstellungen aus dem Haus zu gehen, sich in der Sonne herumzutreiben, bis es Zeit ist zum Mittagessen, oder so lange zu trödeln, bis man Teil eines menschlichen Magmas aus Gesten, Blicken und Geräuschen geworden ist.“

Das Partizip des Verbes, Agorozenta bezeichne die Fortbewegungsart dessen, der sich ganz dem agorazein hingibt: „Er schlendert, die Hände auf dem Rücken, ziellos dahin, wobei er fast nie eine gerade Strecke verfolgt.“

Die Agora in Athen

Ein Fremder, der damals in eine griechische Stadt gekommen war, konnte diese Menschenmenge nur staunend betrachten, die da auf den Straßen hin und her geht, alle paar Schritte stehen bleibt, laut redet und redet,  weitergeht, wieder stehen bleibt … Er hat sich vielleicht gefragt, ob er in einen besonderen Festtag geraten sei, dabei hat er nur die gewöhnliche Praxis des agorazein miterlebt.

Ein berühmtes Beispiel für das agorazein ist der Beginn des Dialoges Phaidros von Platon:

„Mein lieber Phaidros“, sagt Sokrates, „wohin des Wegs und woher?“

„Von Lysias, dem Sohn des Kephalos, lieber Sokrates! Und ich mache mich auf zu einem Spaziergang außerhalb der Mauer; denn ich habe geraume Zeit dort verweilt – vom frühen Morgen an saß ich da. Ich folge dem Rat deines und meines Freundes Akumenos, wenn ich meine Spaziergänge an die frische Luft verlege; denn sie seien weniger ermüdend, sagt er, als in den Hallen der Gymnasien.“

Für de Crescenzo zeigt sich in der Lebensart des agorazein ein ganz besonderes Verhältnis zu Arbeit: Tatsache ist, dass diese Athener nichts Produktives machten, sie gingen spazieren, schwatzten über Gott und die Welt, aber dass sie einemal einen Finger gerührt und etwas Praktisches zum Verkaufen oder Gebrauchen hergestellt hätten, keine Rede davon!“

Dabei dürfe man allerdings nicht vergessen, so de Crescenzo weiter, dass Athen damals 20.000 Bürger hatte, auf die die stolze Zahl von 200.000 Sklaven und Metöken kamen, Menschen, die die Arbeit machten und den Betrieb in Gang hielten.

Auf der anderen Seite lebten die Athener recht genügsam – „Wie viele sind doch der Dinge, die ich nicht brauche“, bemerkte Sokrates einmal, als er über den Markt ging. Dafür widmeten sie sich ganz den Freuden des Geistes und des Gespräches …
 
Zitate aus: Geschichte der griechischen Philosophie, Band 1: Die Vorsokratiker, Zürich 1985 (Diogenes), Seite 9-11   -   Homepage (ital.): http://www.lucianodecrescenzo.net/de_crescenzo/init.html  -  Zum Hören: Das Philosophische Radio (WDR 5) mit Manfred Koch und Jürgen Wiebicke zum Thema "Faulheit"

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